Was bin ich froh, dass die Welt wieder so einfach ist. Das war vor einigen Jahren anders. Wollte man als aufgeklärter Mensch glänzen, musste man differenzieren können. All diese unbequemen Graustufen und Farbnuancen im Leben wahrnehmen. Die Dinge waren nicht so oder so, fein in Granit gemeißelt, sondern so und so und so – und noch eine Perspektive und noch eine Herangehensweise. Anstrengend war das. Heute ist das anders, heute geht das Leben wieder leicht. Denn der Euro ist schuld. An allem.

Wofür wird der Euro nicht alles herangezogen. Seit 11 Jahren* ist er nun auf der Welt und schon für so vieles verantwortlich. Das nenne ich hochbegabt. Seitdem er da ist, hallt es in der Geldbörse wie sonst nur am Königssee in Bayern und die Haben-Seite des Kontos setzt Spinnenweben an. Das Leben kostet schließlich so viel mehr. Das haben wir schnell erkannt und zielsicher moniert. Dass die Währung nur der Überbringer der schlechten Nachricht ist, nicht aber der Initiator, wird der Bequemlichkeit halber übersehen und preistreibende Konzerne, Mittelständler und Händler haben ihren Frieden. „Wir waschen unsere Hände in reinster Unschuld“, beteuern diese und klimpern mit den Augen. „Der Euro ist schuld.“

Auch die Börsen, die Banken und Finanzmärkte allgemein sind diesem Knirps ausgeliefert. Ähnlich einem Indigokind durch den Philosophiekurs – sie wissen: Indigos sind diese Kinder, die ihren Eltern mit sechs Jahren den Sinn des Lebens erklären und damit auch noch Recht haben – rauscht der Euro übers Parkett und durch die Bilanzen und bringt alles ganz fürchterlich in Unordnung. So scheint es zumindest, und Stimmen werden laut, dass dies mit der guten, alten Mark nicht passiert wäre.

Pfui, pfui, pfui – so möchte man den Euro schelten, ihn auf die stille Treppe setzen und Frau Saalfrank anrufen, die TV-freie Ex-RTL-Pädagogin. Zwei buschige Augenbrauen tauchen in Gedanken auf und mit ihnen Theo Waigel. Mit dem damaligen Finanzminister hat schließlich alles angefangen. Und nicht wenige murren, dass damals die Sparbüchse der Pandora geöffnet wurde – und die kriegt nun niemand wieder zu.

Dass an den Börsen Computer für den Handel zuständig sind, und dass diese sich einen Kehricht kümmern um Sinn und Verstand oder gar Moral, sondern allein nach profitorientierten mathematischen Gleichungen agieren? Egal. Der Euro ist schuld.

Dass dort von Menschen und Maschinen mit Rohstoffen spekuliert wird, die Nahrungsmittel so teuer machen, dass Menschen in Teilen dieser Welt verhungern, weil sie sich Weizen oder Mais nicht mehr leisten können? Egal. Der Euro ist schuld.

Dass Herrn Müller und Frau Meier Renditeversprechen von 25 % die Sicht vernageln und die Gier ein ganzes Aktionärsvolk das Hirn zersetzt? Sie ahnen es: Egal! Der Euro: der ist schuld.

Jetzt steht Europa vor lauter Schulden und Ansprüchen seiner Bewohner belämmert da wie ein geschorenes Schaf nach dem Gewitterregen und wieder muss der Euro herhalten. Als wenn die Turbulenzen der beginnenden Pubertät nicht reichten, wird er zusätzlich angefeindet und nur noch als Euro-Krise verhöhnt.

Als grundsätzlich mitfühlender Mensch mag ich es nicht, wenn auf Schwächeren rumgehackt wird. Das war schon in der Schule so, als ich in der Pause öfter mal was auf die Fresse bekam. Vielleicht fühle ich mich als Erwachsener auch deshalb dem Minderheitenschutz verpflichtet – und, was soll ich sagen: das Euro tut mir leid. Zugegeben: dessen Image ist wirklich im Eimer. Aber was man der Währung alles anhängen will, geht zu weit. Ich halte das für ungerecht.

  • Wir mögen eine Krise haben, weil wir allesamt das Geld und den Profit über den Menschen stellen.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil wir Ethik und Moral für weltfremdes Geschwätz halten.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil unter dem Deckmantel der Religion jeglicher Glaubensrichtung persönlichkeitsgestörte Menschen ihre Machtgelüste ausleben.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil sich Wissenschaft und Spiritualität nicht als einander verpflichtet betrachten.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil wir glauben, dass alles, was uns in den Sinn kommt, sofort umgesetzt werden muss und kann.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil uns übertriebenes Perfektionsstreben und ein ausufernder Optimierungswahn fest im Griff haben.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil sich kaum ein Mensch hierzulande mehr vorstellen kann, was es außer Geld verdienen, Arbeiten bis zum Umfallen und Quizshows im Fernsehen noch für einen Lebenssinn geben könnte.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil wir andere Lebensentwürfe als unseren eigenen für gefährlich und bekämpfungswürdig halten.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil wir glauben, dass alles immer nur steil nach oben führen darf und wir das Gefühl für die natürlichen Rhythmen des Lebens verloren haben.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil uns das neue Handy wichtiger ist als Momente der Muße, des unproduktiven Nichtstuns und des Innehaltens.
  • Wir mögen eine Krise haben, weil Menschen, Gemeinden, Städte und Staaten mehr Geld ausgeben, als sie zur Verfügung haben und das ignorieren.

 

Wir mögen eine Euro-Krise haben. Aber nicht nur.

Aber psst, nicht weitersagen: Die Welt ist gerade so schön einfach.

 

Text und Foto: ©Dirk Biermann

 

* Dieser Text stammt aus dem Jahr 2012, selbst vier Jahre später hat er kaum an Aktualität eingebüßt.