Martin*, 29, ist Vegetarier – und das scheint eine mühsame Angelegenheit zu sein. Die fleischlose Ernährung an sich ist weniger das Problem, eher die Einstellung eines Onkels der Freundin. Der nämlich hat zum Essen eingeladen und hält nichts von Martins Essgewohnheiten. Zusammenreißen solle sich Martin, sich nicht so zieren und mal eine Ausnahme machen. Da sind sich Onkel und Freundin einig. „Als Vegetarier habe ich es nicht leicht“, klagt Martin und wendet sich an Frau Ruth von der Sonntagszeitung.

Der Ratschlag von Frau Ruth ist vergleichsweise kurz und von herzerfrischendem Pragmatismus. „Sagen Sie, Sie seien ein eingefleischter Vegetarier“, rät sie zu Humor und zum völligen Verzicht tiefsinniger Erklärungen. Er könne sich bei der Essenseinladung ja an die „leckeren Beilagen halten, die hoffentlich auch angeboten werden.“

So weit, so gut, doch beschleicht mich der Verdacht, dass Frau Ruth hier auf die Schnelle geratschlagt hat. Vielleicht musste sie weg, die Kartoffeln kochten auf dem Herd oder Besuch war da – viel Zeit hat sie sich mit den verschiedenen Perspektiven der Sachlage jedenfalls nicht genommen. Man fragt sich: Ob Martin sich verstanden fühlt?

Denn genau das ist ja sein Problem. Er fühlt sich unverstanden. Von der Welt allgemein, vom Onkel der Freundin speziell – und jetzt reiht sich Frau Ruth mit ihrem Instant-Tipp „to go“ auch noch ein.

Konflikte sind selten einfach, sonst könnte man sie zuverlässig alleine lösen. Auch dieser Fall besitzt eine Tiefenkomponente, die sich auf dem ersten Blick allenfalls flüchtig meldet, und die der ungewohnt phlegmatischen Beraterin offensichtlich durchgegangen ist. Es ist der Verrat der Freundin. Hatte diese sich doch auf die Seite des Onkels geschlagen und von Martin ebenfalls verlangt, beim Familienessen artig zu sein und sich zur Feier des Tages am toten Tier zu laben.
Also wenn Sie mich fragen: Hier läuft ein roter Lebensfaden zu großer Form auf. Ein schwer getroffener Mensch: mehrfach verraten, in seinen Bedürfnissen und zentralen Lebenseinstellungen verkannt. Dieser Mensch ruft nach Hilfe. Alles, was er will, ist etwas Verständnis, so klein die Portion auch sein mag! Und diesem Menschen wird zum klaglosen Beilagenverzehr geraten. Mit dieser Art Pragmatismus, liebe Frau Ruth, scheint es hier nicht getan. Beim besten Willen nicht.

Dirk Biermann

*alle Namen von der Redaktion geändert