Mitwirkende
– Ein Erzähler
– ein Großvater
– ein Bär
– Ein Reh, das nach der Uhrzeit fragt
– Ein Zwerg mit einer gelben Sonnenbrille

Wenn mein Opa ins Erzählen kommt, leuchten seine stahlblauen Augen und ein Lächeln zieht sich in Dutzenden kleinen Fältchen über sein Gesicht. Von rechts nach links und von oben nach unten. Das wirkt unfassbar lebendig und vertrauensvoll dazu. Und doch vermag er in manchen seiner Geschichten die Wahrheit geschickt zu dehnen. Diese gehört dazu.

„Es war ein Mittwochnachmittag im vergangenen Juli“, eröffnete Opa seine Erzählung und blickte mich lange bedeutungsvoll an. Ich war in diesem Moment sein einziger Zuhörer und allein schon deshalb seines ausdauernden Blickes würdig.
„Ich kann mich noch gut an diesen Tag erinnern“, fuhr er fort, „schließlich war es der Geburtstag von Herbert Wehner.“
Als überzeugter Sozialdemokrat würdigte er diesen Jubeltag traditionell mit einem Selbstgebrannten. Einen fürs rechte Bein, einen fürs linke.

Vom Alkohol angeregt habe er beschlossen, seinen Kumpel Jupp wieder einmal zu besuchen. Die Sonne lachte milde vom weißblauen Himmel, so wollte er die zwei Kilometer nach Böttlingen durch den Wald spazieren, statt mit dem Polo über Vierschau und Mestringen zu fahren.
„War auch wegen der Geburtstagsschnäpse besser“, unterstrich er seine Entscheidung, lächelte und blickte mich abermals für einen sehr langen Moment an. Besorgniserregend lange. „Und du glaubst nicht, was mir kurz hinter dem Katzensprung begegnete.“

Das war korrekt. Das ahnte ich nicht. Und ich und war mir auch nicht sicher, ob ich das überhaupt wollte.

Der Katzensprung ist eine verrufene Gegend auf halben Weg zwischen unserem Wohnort Untersalm und Böttlingen. Eine Waldkreuzung, auf der sich unheimliche Dinge zutragen sollen, seitdem dort vor 30 Jahren ein Blitz in eine mächtige Eiche gefahren war. Der Blitz hatte, so erzählt es die Legende, eine Katze, die in der Nähe des Baumes Schutz vor einem Gewitter gesucht hatte und die durch den Donner aufgeschreckt worden war, beim Fluchtversuch im Sprung erlegt. Mausetot. Auf der Stelle. Jetzt soll die Katze dort spuken. Und nicht nur sie.

„Ich hatte kaum die kleine Anhöhe hinauf zum Katzensprung erklommen, als ein Reh meinen Weg kreuzte“, setzte mein Opa seine Erzählung fort und riss mich jäh aus allzu schauerlichen Friedhof-der-Kuscheltiere-Phantasien.
„So weit so normal“, meinte er, „doch als das Tier mich bemerkte, stutzte es, tänzelte mit einem für die Gattung Reh ganz und gar befremdlichen Zutrauen auf mich zu und fragte: „Wanderer, kannst Du mir sagen, wie spät es ist?“

Ihm sei vor Schreck der Atem gestockt … und wohl auch der ein oder andere Gesichtszug entglitten. Ein sprechendes Reh. Am helllichten Tage. Das müsse man sich mal vorstellen.

„Um Zeit zu gewinnen“, berichtete er weiter, „habe ich an meinem linken Ohrläppchen gezupft, tief Luft geholt und mit aufgepumpter Brust und dunkler Stimme gefragt: „Meinst Du mich, Bambi?“
Sofern das Reh beeindruckt war, ließ es sich nichts anmerken: „Siehst Du sonst wen?“
„Seit wann können Rehe sprechen?“, erwiderte mein Großvater.
„Wanderer“, stöhnte das Reh, „wo sind wir hier?“
„Am Katzensprung.“
„Richtig.“
„Und?“
„Seitdem der Blitz in die Eiche geschlagen ist, ticken die Uhren hier anders.“
„Nämlich?“
„Erklär Du es ihm, Zwerg“, murmelte das Reh und blickte in den Holunderbusch am Wegesrand. Dort thronte auf einem bemoosten Baumstumpf ein Prachtexemplar von einem Zwerg mit einer gelben Sonnenbrille im Hippie-Look der 70er-Jahre. 
„Paralleluniversum“, entgegnete der Gnom und rieb sich die Hände wie sich nur jemand die Hände reiben kann, der von seiner Sache überzeugt ist.
„Klar, Paralleluniversum“, antwortete mein Großvater, „völlig klar.“ 

In diesem Moment sei ein Bär durchs Dickicht geschossen. Hoch wie zwei Mann.
„Reh, Zwerg! Da seid ihr ja, ich habe euch schon den ganzen Nachmittag gesucht“, polterte der braune Berg. Meinen Opa würdigte er keines Blickes. „Jetzt aber los, Merlin wartet bestimmt schon.“
„Och, schon zurück?“, mault das Reh, ließ den Zwerg aber bereitwillig auf seinen Rücken hüpfen. Zu dritt zockelte der Trupp von dannen.

„Paralleluniversum!“, denk daran, rief der Zwerg über die Schulter zurück, schob die Sonnenbrille auf die Stirn und zwinkerte mit dem rechten Auge.

„Für mich ist eins seit diesem Tag klar“, beendete Opa seine Geschichte. „Paralleluniversum hin oder her, – aber nie wieder Alkohol vor 18 Uhr.“

©Dirk Biermann